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Verspätungen, mehr oder weniger große Unfälle, lästige
Kleinigkeiten wie verschlossene Toiletten oder verdreckte S-Bahnen
seit der Katastrophe von Eschede haben sich die Medien auf die Bahn
eingeschossen.
Positiv über die Bahn berichtet keiner,
das könnte ja langweilig sein; mal eine Pressemitteilung von der Bahn,
das muss dann reichen. Berichte über eine Dampfzugfahrt sind auch ganz
nett und die halten niemand vom Autofahren ab.
Alle Medien leben mehr oder weniger von der
Werbung, beispielsweise ist genau ein Drittel im stern Reklame,
davon hat wiederum ein Drittel direkt oder indirekt mit dem Auto zu tun (Autos,
Reifen, Benzin, Versicherungen usw.) Die Redakteure wissen genau, wie das
Umfeld die Werbung stärkt und sind deshalb angehalten ihre Artikel
entsprechend zu gestalten. Klar: auf einer Seite wird über den
Öffentlichen Verkehr gemotzt und wenn der geneigte Leser umblättert,
fällt ihm gleich die Edelkarosse am Ferienstrand ins Auge. Da werden
Träume wach . . .
Nur eine schlechte Nachricht ist eine
gute Nachricht, nach dieser Journalisten-Weisheit wird über alles
und jeden gemotzt. Das ist Volkes Seele. Wenn über die Bahn geschimpft
wird, sagen die Fahrgäste: Ja, das kenne ich auch!, die
Niemals-Fahrgäste: Siehst'de! und alle fühlen sich
bestätigt.
Über das Auto wird freilich auch gemotzt,
zu lange Staus, zu hohe Benzinpreise und das Raubrittertum der Parkschandis
im Allgemeinen und im Besonderen. Das Verkehrssystem Auto wird
freilich nicht in Frage gestellt, keine Berichte über zu hohe Abgas-
und Lärmbelastung, über zu hohen Energie- und Flächenverbrauch,
da sorgt schon die Werbe-Mafia dafür. Es sind Fälle bekannt, wo
kritische Artikel mit der Drohung unterbunden wurden, keine Werbung mehr
zu schalten.
Verkehrsbetriebe und Fahrgäste haben keinen
solchen Einfluss.
Von Werbung abhängige Medien werden nie obektiv über
die verschiedenen Verkehrssysteme berichten. |
Was ist nun an dem in den Medien so
genüsslich breitgetretenem Chaos dran?
Im letzten Herbst war tatsächlich kaum
noch eine S-Bahn pünktlich. Wie jedes Jahr sorgten matschige Blätter
und Nebel für glitschige Schienen, so dass die Züge oft nicht so
stark beschleunigen konnten und vorsichtiger bremsen mussten, das macht an
jeder Station nur wenige Sekunden aus, über die ganze Strecke kann sich
das aber zu beachtlichen Zeiten aufaddieren. So wurde über die veralteten
S-Bahn-Züge geschimpft. Neue Züge haben zwar bessere
Gleitschutzvorrichtungen, aber die alten haben 25 Jahre lang die Herbst-Schmiere
halbwegs gut gemeistert, warum sollten sie das plötzlich nicht mehr
tun? Es muss was anderes sein!
Bisher wurden neue Lokführer zuerst im
Rangierdienst, dann im Güterverkehr eingesetzt, wo sie den Umgang mit
den verschiedenen Triebfahrzeugen allmählich lernen konnten. In der
ersten Stufe der Bahnreform gab es auch noch den Geschäftsbereich
Traktion, da lief das noch ähnlich ab. Inzwischen wurde
dieser Bereich aufgelöst, Tfz (Triebfahrzeuge) und Tf
(Triebfahrzeugführer) den anderen Geschäftsbereichen zugeteilt.
Wer bei Cargo gelandet ist wird nur noch Güterzüge
fahren aus der Traum(beruf) vom superschnellen ICE. Neue Tf bei
Regio kommen gleich auf die S-Bahn. Sicherheitstechnisch mag
das weniger problematisch sein, Erfahrungen mit schwierigen Fahr-Situationen
fehlen jedoch.
Dann kommt plötzlich die Herbst-Schmiere.
Die Räder blockieren und rutschen. Bahnsteigende oder Haltesignal kommen
bedrohlich schnell näher. Sand streuen! Ratsch schon ist die
Flachstelle drin klapp, klapp, klapp.
Bis 1996 ist niemand das Herbst-Chaos aufgefallen,
es gab keins. 1997 wurde ein Drittel der S-Bahn-Züge wegen Flachstellen
aus dem Verkehr gezogen, 1998 waren es schon fast die Hälfte.
Einsatzreserven fehlen, wenn der Zug in Pasing verstärkt werden muss,
der Zugteil aber noch nicht da ist, dann muss halt gewartet werden.
Fall 1: In Augsburg muss aus dem IC Dortmund München
ein defekter Wagen herausgenommen werden. Der Intercity ist aber ein Zug
des Fernverkehrs, in Augsburg gibt es nur Rangierer für den Nahverkehr.
Fazit: der Nahverkehrs-Rangierer darf den Wagen nicht ausstellen, obwohl
er es könnte, der Fernverkehrs-Rangierer muss erst aus München
anreisen. So hat der Zug schließlich eine Stunde Verspätung, obwohl
man das auch in 10 Minuten erledigen könnte.
Fall 2: Am Samstag geht am Regionalexpress in Ulm eine Lok kaputt.
Auf der einzigen verfügbaren Lok steht Cargo drauf. Die
wird erst am Montag wieder gebraucht. Aber Cargo ist jetzt eine
andere Firma, der Fahrer der Regio darf die nicht fahren, obwohl
es die gleiche Bauart ist. Schließlich hat ja die Bundesbahn für
teures Geld Lokomotiven entwickeln und bauen lassen, mit denen man einen
schweren Güterzug genauso wie einen schnellen Intercity fahren kann.
Aber nix da eine neue Lok muss erst aus Stuttgart herangekarrt werden,
90 Minuten Verspätung anstatt 20 die Fahrgäste werden es
schon schlucken!
Freilich könnte man solche Probleme
verwaltungstechnisch lösen. Das wird auch teilweise gemacht. Aber jetzt
ist jeder Geschäftsbereich eine eigene Firma und deshalb werden solche
Gefälligkeiten gegenseitig in Rechnung gestellt. Kosten sollen aber
vermieden werden, also lässt man es lieber bleiben. Der Fahrgast bleibt
im wahrsten Sinne des Wortes auf der Strecke.
Die Aufteilung von Fahrzeugmaterial und Personal in verschiedene
Unternehmen macht den Betrieb unflexibel und führt zu
Verspätungen. |
Der Geschäftsbereich Netz
baut auf der eingleisigen Strecke zwischen Tutzing und Garmisch alle
Kreuzungsgleise (also die meist in Bahnhöfen befindlichen Ausweichgleise
zum Überholen oder Vorbeifahren) aus, die im laufenden Fahrplan nicht
benötigt werden. Nachdem das Netz-Unternehmen die Fahrplantrassen (die
zeitliche Zuordnung von Zug zu Streckenabschnitt) selbst vergibt, hat es
die Kontrolle drüber, welche Gleise überflüssig
sind. So wurde bereits im letzten Jahr die Kreuzungsmöglichkeit in
Diemendorf abgebaut, heuer ist beispielsweise Farchant dran.
Fall 3: Der RE von Mittenwald nach München hat 10 Minuten
Verspätung. Normalerweise begegnen (kreuzen) sich die Züge
bei Tutzing. Bisher konnte der Zug Richtung Mittenwald in solchen Fällen
schon mal bis Diemendorf fahren und dort auf die Durchfahrt des RE nach
München warten. Verspätung: 2 bis 3 Minuten. Jetzt gibt es aber
das Kreuzungsgleis nicht mehr, der Zug muss in Tutzing so lange warten, bis
der RE da ist. Verspätung: ebenfalls 10 Minuten.
Es gibt Strecken, die bereits soweit
zurückgebaut wurden, dass die Verspätung eines einzigen Zuges auf
alle Züge der Strecke durchschlägt und bis zum Abend nicht mehr
behoben werden kann.
Auf manchen Strecken kann neben dem üblichen
Taktfahrplan kein einziger Zug mehr durchgeschleust werden. Güterverkehr
und Sonderzüge sind damit unmöglich geworden.
Abstellgleise in Bahnhöfen,
Güterschuppen und Reserveflächen werden verkauft. Aufgelassene
Strecken werden verscherbelt. Doch wer braucht ein 10 km langes und 2 m breites
Grundstück? Die ehemaligen Bahnhöfe sind Filetstücke, die
Geld bringen, die Strecken innerhalb der Ortschaften werden an die Anlieger
zur Vergrößerung ihrer Gärten verhökert, die freien
Strecken bekommen die Gemeinden, die üblicherweise Radwege drauf anlegen.
Es versteht sich von selbst, dass hier auch nach einer Wende in der
Verkehrspolitik nie wieder Züge fahren können.
Auch das Unternehmen Netz ist
angehalten Gewinn zu machen. Alle anderen Verkehrswege werden dagegen vom
Bund als Fürsorgemaßnahme ohne jegliche Rechenschaft finanziert.
Es handelt sich hier also um eine eklatante Wettbewerbsverzerrung zu Ungunsten
der Schiene. Zweckmäßigerweise sollte die Betreuung des Fahrwegs
wieder in staatliche Hand gegeben und von einem derartigen Wettbewerbsdruck
befreit werden.
Doch auch der Kanzler aller Autos
und sein Verkehrsminister werden an der noch von der alten Bundesregierung
eingeleiteten Fehlentwicklung nichts ändern!
Die derzeitige Verkehrspolitik sorgt dafür, dass das Unternehmen
Netz die Schienen-Infrastruktur zerstört und einen reibungslosen Bahnverkehr
unmöglich macht. |
Wie alle anderen privatwirtschaftlich
geführten Unternehmen muss die DB AG Kosten reduzieren. Das macht man
am besten durch Abbau von Personal. Dass die Allgemeinheit in Form von
Arbeitslosigkeit und höheren Sozialkosten dann doch wieder dafür
aufkommen muss, interessiert die Firmenbosse freilich nicht. Die
müssen es ja nicht zahlen!
Die Personalkürzungen der DB sind in der
letzten Zeit zurecht von den Medien kritisiert worden. Nachdem der ohnehin
schon ziemlich aufgeblähte Verwaltungsapparat durch die Aufteilung in
verschiedene Geschäftsbereiche eher noch mehr wuchert, wird das Personal
in noch stärkerem Maße von den Strecken und aus Zügen und
Werkstätten abgezogen. Viele fragen sich, ob nicht dadurch die Sicherheit
leidet. Die Bahnchefs dementieren heftig.
Tatsächlich ist es so, dass beispielsweise
Wartungsintervalle vergrößert werden. Andererseits wird hier durch
verbesserte Technik vieles wieder wettgemacht. Die Gefahr lauert eher woanders.
Fall 4: Der Regionalexpress fährt mit 120 km/h übers Land.
Doch eine Bremse im letzten Wagen blockiert. Der Fahrdienstleiter in
Kleinkleckersdorf bemerkt die rotglühenden Bremsklötze und lässt
den Zug anhalten. Zwei Wochen später wird das neue Zentralstellwerk
in Dingenskirchen in Betrieb genommen. 20 Stellwerke, darunter auch das in
Kleinkleckersdorf, werden dadurch ersetzt. In hermetisch abgeschlossenen
Räumen sitzen vier Leute an den Stelltischen und haben bestenfalls noch
ein paar Bildschirme zur Überwachung der Strecke. Heißgelaufene
Bremsen kann da keiner mehr erkennen.
Fall 5: 20.30 Uhr in Großhausen. Zwei Fahrgäste warten
am Bahnsteig. Plötzlich überfällt eine gewalttätige Gang
den Bahnhof. Fensterscheiben klirren, Uhren und Fahrplanvitrinen werden
zerstört. In der anschließenden Rangelei wird einer der
Fahrgäste so schwer verletzt, dass er ins Krankenhaus muss. Der Bahnhof
ist seit einem halben Jahr unbesetzt . . .
Der rigide Personalabbau auf der Strecke verringert die
Sicherheit. |
Das Unternehmen Zukunft muss Gewinn
einfahren. Züge, die stehen, bringen kein Geld. Also müssen die
Züge rollen. Da wird es mit den vorgeschriebenen Grenzwerten nicht mehr
so genau genommen.
Schon Wochen vor der tragischen Katastrophe
von Eschede trugen die Zugbegleiter wiederholt ungewöhnliche
schlagende Geräusche im Wagen 2 in das ICE-Logbuch ein. Nach jeder
Fahrt wurden die ICE-Garnituren überprüft. Die Radreifen waren
zwar stark abgefahren aber noch 5 mm über der Grenze, bei der sie
ausgewechselt werden müssen. Die Unrundheit der Räder, die deutlich
über dem zulässigen Wert lag, wurde ebenfalls immer wieder
festgestellt, aber das macht nichts, das rumpelt halt ein bisschen
mehr. Der Zug muss fahren!.
Das andauernde Klopfen hat dann doch was gemacht,
von innen heraus entstand ein Sprung, der irgendwann den Radreifen
aufreißen ließ. Wenn dann nicht gerade die unselige Kombination
von Weiche und Brücke gewesen wäre, wäre wohl nicht viel passiert.
Es hätte halt plötzlich noch viel heftiger gerumpelt. Auch der
angeblich so sichere TGV ist schon mal in der Wiese gestanden.
Nicht Schlamperei, sondern der von oben angeordnete
wirtschaftliche Druck verringert die Sicherheit. |
Trotz allem sei aber an dieser Stelle drauf
hingewiesen, dass die Bahn mit Abstand das sicherste Verkehrsmittel ist.
Allein in der Woche nach der Katastrophe von Eschede kamen auf bundesdeutschen
Straßen ebensoviele Leute um, davon nimmt die Presse freilich kaum
Notiz und sich wiederholende Sonder-Gottesdienste gibt es auch nicht.
Übrigens ist die Bahn für den normalen
Fahrgast noch sicherer als das Flugzeug. Der Luftverkehr taucht in den diversen
Statistiken nur deshalb als sicherer auf, weil bei der Bahn auf den Gleisen
spielende Kinder, S-Bahn-Surfer, aus dem Zug purzelnde Trunkenbolde, blinklicht
ignorierende Autofahrer und dergleichen die Zahlen hochtreiben, die es beim
Flugverkehr naturgemäß nicht gibt. Nachweisliche Selbstmörder
dagegen werden von der Statistik ausgenommen.
Im nächsten Schritt sollen die Zugbegleiter
eingespart werden. Bei lokbespannten Zügen sind die Schaffner noch aus
Sicherheitsgründen vorgeschrieben, bei Triebwagen verzichtet man inzwischen
drauf. Die Fahrgäste haben dann den Triebfahrzeugführer als
Ansprechpartner.
Fall 6: Zwanzig GOC-Wanderer steigen in Ramerberg in den Triebwagen
nach Rosenheim. Am Bahnsteig ist kein Fahrkartenautomat. Als alle hinter
dem Fahrer stehen und der erste den Wunsch nach einer Fahrkarte
äußert, macht sich beim Fahrer blankes Entsetzen breit: Was?
Braucht's ihr alle a Fahrkart'n? Naa, da hab' i jetzt koa Zeit dafür!
I muaß fahr'n! Hockt's eich daweil hinter und kauft's es eich in
Rosenheim.
Findige Gewerkschaftler haben ausgerechnet,
dass die Schaffner in der Regel mehr Geld einnehmen, als sie selbst kosten.
Das sind freilich nicht nur die unmittelbaren Einnahmen. Allein die Präsenz
führt dazu, dass sich die Fahrgäste am Schalter oder am Automaten
ihre Tickets besorgen. An Strecken, auf denen seit längerer Zeit nur
noch Triebwagen ohne Schaffner verkehren, hat die Schwarzfahrerquote inzwischen
30 bis 50 Prozent erreicht.
Es wurde noch nie untersucht, wieviele
Fahrgäste durch die Bedienung der Automaten abgeschreckt werden. Besetzte
Schalter, bei denen man sich von einem Menschen aus Fleisch und Blut beraten
lassen kann, werden immer seltener. Andererseits hört man immer wieder
von Leuten, die eine falsche Fahrkarte gelöst haben und vom Personal
schikaniert werden. Da sagt sich sicher der eine oder andere: Da fahre
ich halt schnell mal mit dem Auto rüber.
Der Personalabbau in Bahnhöfen und Zügen verringert die
Einnahmen. |
Abschließend lässt sich feststellen,
dass die meisten Probleme durch Fehlentwicklungen der Bahnreform verursacht
werden. Einerseits konnte man nicht mehr so weiterwursteln wie früher,
andererseits darf es so auch nicht weitergehen. Einige Nachbarländer
haben bereits Korrekturen an der von der EU verordneten Bahnreform
durchgeführt. In Holland wurden die Trassenpreise abgeschafft, in
Österreich die Zerhackstückelung in mehrere Geschäftsbereiche
reduziert. Während überall auf der Welt sich Firmen zu
schlagkräftigen Konzernen zusammenschließen, wird der Bahn eine
Teilung und Auslagerungen in viele Klitzeklein-Firmen politisch
aufgedrückt. Bahngewerkschaftler und Fahrgastverbände haben die
Zeichen erkannt und versuchen gegenzusteuern, aber ohne Unterstützung
der Presse wird das kaum gelingen. Warum die nicht mitmacht wurde ja bereits
am Anfang dieses Beitrags geschildert und so kann der alte Sisyphus wieder
von vorne anfangen, den Stein auf den Berg zu kullern.
Peter
Leserbrief an den Autor |