|
An jeder Milchkanne
Immer ein Stiefkind: Die Geschichte der Bahnstrecke von
Ebersberg nach Wasserburg
Wer heute im gemütlichen Tempo mit dem modernen
Dieseltriebwagen von Ebersberg nach Wasserburg Bahnhof fährt, erinnert
sich vielleicht noch an die roten Schienenbusse, die bis Mai 1995 etwa vier
Jahrzehnte lang im Personenverkehr auf dieser und auf vielen anderen bayerischen
Nebenbahnen fuhren. Sie ersetzten auf unserer Strecke mit dem in jüngerer
Zeit modern gewordenen Spitznamen Filzenexpress die bis dato
mit Dampfloks fahrenden Personenzüge und ermöglichten wegen der
höheren Wirtschaftlichkeit einen dichteren Fahrplan.
Wie vor 120 Jahren
Ob der seit dem Frühjahr 1987 wegen eines Dammrutsches aus technischen
Gründen gesperrte Abschnitt Wasserburg Bahnhof Wasserburg
Stadt wieder in Betrieb geht, hängt von den Kosten ab, die die Stadt
Wasserburg für die Sanierung ausgeben möchte. Für diesen Abschnitt
wurde von der früheren Deutschen Bundesbahn kein Stilllegungsverfahren
eingeleitet. Daher fehlt ihrer Nachfolgegesellschaft, der Deutsche Bahn AG
die Rechtsgrundlage für einen Abbau der Strecke. Da über den
Wiederaufbau in absehbarer Zeit keine Entscheidung zu erwarten war, wurde
ein Stadtbus eingerichtet.
Wegen des fehlenden Bahnanschlusses ist nun
fast wieder dieselbe Situation eingetreten wie vor 120 Jahren, als die Strecke
Rosenheim Wasserburg Bahnhof (Reitmehring) Mühldorf aufgrund
der schwierigen geographischen Lage in der kesselähnlichen Innschleife
und wegen der hohen Baukosten an Wasserburg vorbei gebaut wurde.
Bereits seit der Mitte des letzten Jahrhunderts
hatte die Stadt ständig versucht, an das Schienennetz angeschlossen
zu werden, um die wirtschaftlichen Nachteile durch die Industrialisierung
entlang der Schienenwege auszugleichen. Wegen der starken Steigung bei
Kreuzstraße war die Strecke München Holzkirchen
Rosenheim bereits kurze Zeit nach der Eröffnung im Jahr 1857 ständig
überlastet, weshalb hier auf lange Sicht kaum der geplante
weiterführende Verkehr über den Brenner und nach Wien hätte
rollen können. Daher wurde 1871 die Strecke Rosenheim Grafing
München realisiert.
Im Jahre 1876 befuhr ein Eröffnungszug
ohne ausschweifende Feierlichkeiten die neue Strecke von Rosenheim nach
Mühldorf. Diese Linie erreichte jedoch nie die ihr zugedachte
überregionale Bedeutung für den Verkehr von Italien nach Pilsen.
Da Wasserburg-Stadt über den Bahnhof in Reitmehring einen nur
umständlich erreichbaren Anschluss bekommen hatte, hielt sich das
Fahrgastaufkommen in Grenzen, wozu auch der dünne und erst nach vielen
Jahren verbesserte Fahrplan beitrug.
Bereits 1870 erhielt Wasserburg eine Anfrage
aus Grafing, ob an einer Querverbindung zwischen den künftigen Strecken
München Rosenheim und Rosenheim Mühldorf Interesse
bestehe, worauf 1872 die an dem heutigen Filzenexpress liegenden
Gemeinden wegen einer finanziellen Beteiligung befragt wurden. Die Regierung
wollte jedoch keine Konkurrenzlinie zur bereits bestehenden von München
über Rosenheim und Traunstein nach Salzburg zulassen.
Das am 28. April 1882 verabschiedete Gesetz
für den Bau zahlreicher Sekundärbahnen mit Grunderwerb durch die
Anliegergemeinden ließ in Wasserburg wieder Hoffnungen aufkeimen. Von
Traunstein wurde 1891 eine Strecke nach Trostberg eröffnet mit der Absicht,
diese über Garching nach Mühldorf weiterzuführen. Dies sah
die Stadt Wasserburg als Konkurrenz für den ersehnten Bahnanschluss
nach München an. Auch eine Anfrage an die Direktion der privaten Lokalbahn
AG (LAG) 1889 für den teuren Bau und Betrieb der steigungsreichen und
4,4 Kilometer langen Strecke von Wasserburg-Bahnhof nach Wasserburg-Stadt
kam aufgrund des niedrigen zu erwartenden Fahrgast- und Frachtaufkommens
ebenso wie die anschließende 18,8 Kilometer lange Strecke nach Ebersberg
über Planungen nicht hinaus. Rund hundert Jahre später sollte der
stilllegungsgefährdete Filzenexpress von der ebenfalls privaten
Tegernseebahn wieder in Schwung gebracht werden, die ihr Engagement jedoch
von Zuschüssen der Anliegergemeinden und des Freistaats Bayern
abhängig machte.
Erst Glonn, dann Ebersberg
Erst die von Glonn ausgegangene Initiative führte 1894 zur Eröffnung
der Strecke von dort nach Grafing und der 1899 folgenden sechs Kilometer
langen Weiterführung nach Ebersberg. Die erneut von Wasserburg eingereichte
Wirtschaftlichkeitsberechnung brachte zur Jahrhundertwende die erlösende
Mitteilung, dass der Bau der Strecke Ebersberg Wasserburg Stadt per
Gesetz genehmigt wurde. Der Grunderwerb auf dem Gelände des heute
stillgelegten Bahnhofs Wasserburg-Stadt konnte ohne aufwendige
Enteignungsverfahren rasch abgewickelt und die Bahn trotz beachtlicher
technischer Schwierigkeiten wie etwa Abstützen des Bahndammes durch
Betonpfeiler entlang des Inns bis zum 20.Dezember 1902 fertiggestellt
werden.
Der Anschluss an die bereits bestehende Bahn
nach Ebersberg verzögerte sich wegen der noch nicht abschließend
geregelten Finanzierung des Grunderwerbs. Nachdem diese Frage Ende 1903
geklärt war, ging der Bahnbau weiter. Außer der 21 Meter langen
Stahlbrücke über die Ebrach bei Edling waren keine großen
Schwierigkeiten zu erwarten, abgesehen von einigen Dammrutschen und Senkungen
des Bahnkörpers im Laufinger Moos bei Ebersberg.
Am 27. September 1905 fand die Einweihungsfahrt
statt, die jedoch seinerzeit von der örtlichen Presse nach jahrzehntelangem
Kampf um diese Bahnverbindung nur mit einigen Zeilen gewürdigt wurde.
Wegen der spärlichen Fahrten und der ungünstigen Anschlüsse
dauerte damals eine Fahrt über diese Direktverbindung nach München
genauso lange wie über den Rosenheimer Umweg von rund 30 Kilometern.
Nach den Wirren des Ersten Weltkrieges verschwanden
die Pläne für eine durchgehende Verbindung von Wasserburg nach
Trostberg, zumal es seit 1908 eine Bahn von Endorf nach Obing und seit 1910
eine von Trostberg nach Mühldorf gab. Die Personenzüge bestanden
anfangs aus bayerischen Lokalbahnwagen und waren mit unterschiedlichen
bayerischen Dampflokbaureihen bespannt. Nach dem Zweiten Weltkrieg kamen
stärkere Tenderdampflokomotiven der Reichsbahn hinzu, ehe sie durch
neu gelieferte Schienenbusse verdrängt wurden. Von den fünfziger
bis in die siebziger Jahre standen durchschnittlich acht Zugpaare täglich
in den Fahrplänen. Der Dampflokeinsatz endete Anfang der sechziger Jahre
mit den ersten neu gelieferten Diesellokomotiven, die heute noch im
spärlich gewordenen Güterverkehr von Wasserburg nach Forsting
anzutreffen sind.
Drei Jahre vor dem 1972 zur Olympiade aufgenommenen
S-Bahnbetrieb zwischen Ebersberg und Grafing Bahnhof (und weiter nach
München) war dieser Abschnitt bereits elektrisch befahrbar. Damit endeten
die Schienenbusse nun in Ebersberg.
An Gütern wurden hauptsächlich Kohlen,
Heizöl und Diesel, Stückgut, Holz, Getreide, Dünger,
Landmaschinen, Fisch und Bier über Grafing nach Wasserburg befördert.
Die Grafinger Strecke diente in der Nachkriegszeit auch der Milchversorgung
Münchens, wofür ein eigener Güterzug verkehrte. Die
Personenzüge mit Packwagen hielten im wahrsten Sinne des Wortes an jeder
Milchkanne und angesichts eines Gebäudes mit der Anschrift
Molkereigenossenschaft Tulling in der Nähe eines
Bahnüberganges werden heute noch Erinnerungen an die alte gemütlichere
Zeit wach.
Nicht nur im übertragenen Sinne sah es
so aus, dass es mit der Strecke von Ebersberg nach Wasserburg seit Anfang
der siebziger Jahre ständig bergab ging: Am Silvestertag des Jahres
1988/89 setzte sich ein S-Bahnzug am Ebersberger Bahnhof in Bewegung, dessen
Fahrer den leeren Zug kurz verlassen und vergessen hatte, die Bremse anzulegen.
Obwohl der führerlose Zug mehrere unbeschrankte Bahnübergänge
und die sich bei Annäherung eines Zuges selbständig einschaltenden
sechs Blinklichtübergänge passierte, kam es zum Glück zu keinem
Unfall. Geistesgegenwärtig schloss der Fahrdienstleiter in
Wasserburg-Bahnhof die Schranken und stoppte die S-Bahn auf einem Stumpfgleis,
wo sie einen Prellbock überfuhr.
Stilllegung abgewendet
Die Schienenbusverbindungen wurden dünner durch den seit 1984
verstärkten Bus-Parallelverkehr, und auch die Züge wurden immer
kürzer. Das Ziel, die Strecke aufgrund der sich verstärkenden Defizite
stillzulegen, wurde jedoch dank des Engagements der Anliegergemeinden,
hauptsächlich der Stadt Wasserburg, nicht erreicht.
Wenn der Fahrgastverband PRO BAHN
etwa sechs Mal im Jahr an einem Wochenendtag einen Filzenexpresstag
veranstaltete, fuhren Drei- oder seltener Vierteiler. Diese sehr gut besuchten
Veranstaltungen hielten das Interesse an der Strecke wach, da die Züge
für die zum großen Teil aus München angereisten Ausflügler
bewirtet wurden.
Dies führte ab Juni 1994 an den Wochenenden
zu einem verdichteten Fahrplan, den ein meist solo fahrender Schienenbus
bediente. An Wochentagen steigerten die mittlerweile bundesweit anzutreffenden
zweiteiligen Dieseltriebwagen der Baureihe 628 den Fahrkomfort. Diese fuhren
jedoch werktags für zwei Jahre nur noch vormittags als Alibizugpaar.
Sowenig Züge hatte es nicht einmal in den kriegsbedingten
Notfahrplänen gegeben.
Seit 2. Juni 1996 fahren nun in einem stark
verbesserten Fahrplan neun Zugpaare (an Wochenenden acht). Diese halten
bis auf ein Paar an Wochentagen in Grafing-Bahnhof direkten Anschluss
an die Münchner Stadtexpress-Züge. Damit war die Stilllegung unserer
Strecke vorerst vom Tisch. Am Eröffnungstag veranstaltete man Sonderfahrten
mit einer ölgefeuerten Güterzugdampflok zwischen Wasserburg-Bahnhof
und Forsting.
Noch attraktiver machen
Und wie soll es weitergehen? Damit das heute schon attraktive Angebot des
Filzenexpresses noch stärker angenommen wird, müssen unbeschrankte
Bahnübergänge geschlossen und nach Sanierung der Gleise die
zulässige Höchstgeschwindigkeit für die Züge angehoben
werden.
Um zu vermeiden, dass Grafing Bahnhof noch
mehr durch Parkplätze verunstaltet wird, sind Park-and-Ride-Plätze
an einigen Stationen des Filzenexpresses und auch an der Hauptstrecke nach
Rosenheim sinnvoll. Der etwa zwei bis drei Kilometer vom Bahnhof Forsting
entfernte Ort Pfaffing kann ohne weiteres durch einen Buszubringer an die
Bahn angeschlossen werden. Oberndorf sollte zumindest wieder einen
Bedarfshaltepunkt bekommen, da hier ein gewisser Ausflugsverkehr wegen des
Hotels besteht.
Für das Fahrgastaufkommen des
Wasserburgers ist sehr wichtig, dass die Bahn von Wasserburg
Stadt nach Wasserburg Bahnhof wieder eröffnet wird. Hierzu wird zur
Zeit der Kostenaufwand für eine Wiederherstellung ermittelt. Damit besteht
die Hoffnung, dass auf der Wasserburger Stadtstrecke das hundertjährige
Jubiläum im Jahr 2002 wieder mit einer durchgehenden Bahnverbindung
nach München gefeiert werden kann.
Gerald Bendrien Süddeutsche Zeitung/ Ebersberger
Neueste Nachrichten |