Urlaubswoche auf Rügen

Auch unsere Rügen-Fahrt 1998 war eine Wiederholung. Deshalb sind die schon im Heft 3 („Urlaub an der Ostsee“) beschrieben Punkte hier nicht mehr näher erläutert.


Endlich isses so weit: EuroNight 482 nach København mit Kurswagen nach Binz schiebt sich am 7. August 1998 pünktlich aus dem Münchner Hauptbahnhof über die Gleise Richtung Ingolstadt. Die nächsten 14½ Stunden werden die beiden Liegewagenabteile, die wir mit acht Personen optimal ausnutzen, unser Heim sein. Bis Fulda können wir den Speisewagen benützen, dann werden die Binzer Kurswagen an den D-Zug aus Basel übergeben. Schon kurz hinter Würzburg, während wir die alte Strecke zwischen Gemünden und Jossa hochkurven, sind alle schon in ihren Kojen verschwunden.
     Von Erfurt, Halle, Magdeburg und Schwerin kriegt keiner was mit, erst hinter Rostock werden die Reisenden wach. Die Mitropa versucht seit letztem Jahr das Frühstück besser zu machen ...
     Erwartungsvolle Spannung kommt auf als wir über die Rügendamm-Brücke fahren. Doch der noch etliche Kilometer durch die platte Ackerlandschaft dahinbretternde Zug direkt neben der vollgestauten Straße lässt noch nichts Besonderes erwarten. Erst hinter Bergen wird die Landschaft interessanter und der Zug langsamer. In Binz, dem Haupt-Badeort der Insel, hat man inzwischen den Bahnsteig verlängert, so dass die typische Sand-in-den-Schuhen-Begrüßung entfällt.
     Zum Hotel ist es nicht weit. Da die Zimmer noch nicht frei sind, verstauen wir das Gepäck erst mal in der Bilder-Galerie der Hotel-Besitzerin. Dort werden wir in den nächsten Tagen unser Frühstück einnehmen. Das ist auch ganz praktisch, so nehmen wir niemand den Platz weg und können ungestört herumalbern, wovon auch reichlich Gebrauch gemacht wird...

Zuerst wird der Ort erkundet. Die alten Villen an der Strandpromenade werden toll hergerichtet, auffallend sind aber viele streunende Katzen. Es ist erheblich kälter als im Jahr zuvor, kaum einer sitzt am Strand oder ist gar im Wasser. Wegen akuter Gänsehaut bleibt unser Strand-Besuch kurz, wir verziehen uns lieber in ein Restaurant mit Nudel-Spezialitäten.
     Am Nachmittag geht es hinauf zur Burg Granitz mit dem dicken runden Turm, von dem aus man einen herrlichen Ausblick hat. Doch das Gelände rund um die Burg ist weiträumig abgesperrt. Es wird ein mittelalterliches Spektakel mit Gauklern und Rittern geboten, das uns zwar überhaupt nicht interessiert, doch um auf den Turm zu kommen, müssen wir eine erhebliche Abzockerei über uns ergehen lassen. Naja, dafür kostet der Turm selbst keinen Eintritt mehr.
     Für den Anfang eines Rügen-Urlaubs ist die Aussicht von der Burg Granitz besonders interessant. Von hier oben hat man den besten Überblick über die reich gegliederte Insel.
     Im nahen Biergarten stärken wir uns, bevor wir die steile Katzenbuckel-Piste zum Bahnhof „Jagdschloss“ hinuntereilen. Eine kleine Holzhütte und ein im Halbkreis angeordnetes Schmalspurgleis sind hier im Wald die einzigen Spuren des „Rasenden Rolands“. Der steht aber erst am nächsten Tag auf dem Programm.
     Um nicht – wie im Vorjahr – wieder kilometerlang an einer stark befahrenen Straße entlangmarschieren zu müssen, wählen wir diesmal einen anderen Weg. Es ist ein schöner Waldweg, der uns nach längerem Stück direkt an eine andere, noch stärker befahrene Straße bringt, die wir kilometerlang entlanglaufen müssten. Für diese verfehlte Wanderweg-Planung sollte man mal das Landratsamt von Rügen rügen.
     Der nächste brauchbare Weg hätte uns einen Umweg von weiteren drei Kilometern beschert, so stolpern wir parallel zur Straße über ein abgeerntetes Stoppelfeld.
     Der Weg von Serams zurück nach Binz ist dafür wieder sehr schön: offenes Gelände mit immer wieder neuen Ausblicken. Diesmal gelingt es uns auch an den Schmachter See zu kommen.

Am Sonntag führt uns der Beginn unserer Wanderung über das hintere Ende der Binzer Strandpromenade. Wir sehen die Baustellen, wo die alten Villen herausgeputzt werden, aber das Geheimnis der streunenden Katzen kann immer noch nicht geklärt werden. Durch den Wald und über die Hangkante der steil abfallenden Dünen gelangen wir nach Sellin.


Seebrücke in Sellin
  

     Ein eisiger Wind treibt uns bald wieder von der neu erbauten Seebrücke.
     Nach dem Mittagessen geht es mit dem Bus nach Göhren, wo aber diesmal keine rothaarigen Gören röhren.
     Wir schauen uns im Ort um und gelangen unversehens in ein „Urlaubs-Paradies“ besonderer Art: Dutzende von völlig verwüsteten Ferienbungalows im typischen DDR-„Datschen“-Stil, dazwischen Fragmente von Ost-Kühlschränken, Trabbi-Teilen, Badewannen und diversen Plastik- und Holzteilen. Das Ganze ist dschungelartig überwuchert. Das sind also die „blühenden Landschaften“!
     Eine Stunde später sind wir am Bahnhof. Wir beobachten die Lok des „Rasenden Roland“ beim Wasserfassen und Umsetzen.


Der Rasende Roland kurz vor der Abfahrt in Göhren
  

     Die kleine Lok zieht die zehn Wagen mühelos weg. Nach etwas mehr als einer Stunde sind die 24 km nach Putbus zurückgelegt und wir verlassen die urigen dachpappe-gedeckten Waggons.
     Diese Strecke ist der Rest des einmal etwa hundert Streckenkilometer umfassenden Schmalspurnetzes auf Rügen. Daneben gibt es noch die DB-Hauptstrecke Stralsund-Rügendamm – Sassnitz (47 km) mit den beiden Abstechern Lietzow – Binz und Bergen – Lauterbach (jeweils 12 km).
     In Putbus bewundern wir kurz den „Circus“, einen riesigen runden Platz mit einem Obelisken mittendrin und etlichen klassizistischen Häusern drumherum.
     Das Schloss-Café, das früher in der Orangerie untergebracht war, ist jetzt in einem unscheinbaren Bau neben der Straße. Dahinter stehen ein paar Plastikstühle. Alles – Häuschen, Stühle und das ganze Ambiente drumherum – Original-DDR. Perfektioniert wird der Eindruck durch die Bedienung, die fast jeden Eintrag der ohnehin nicht sehr üppigen Speisekarte mit „Ham wa ooch nüsch!“ kommentiert. Schließlich probieren einige das himmelblaue Eis, das exakt nach Zahnpasta schmeckt oder den Obstkuchen: ein dünner Boden, darüber mehrere Zentimeter dick Kirschen, die völlig in Gelatine eingegossen sind. Als am Nebentisch die gleiche Zeremonie beginnt und die Bedienung merkt, dass wir uns darüber lustig machen, ruft sie herüber: „Erzählen Sie doch den Kinnern mal, wat mir alles nüsch haben!“
     Nach diesem fröhlichen Intermezzo starten wir zur letzten Etappe des Tages, der kurzen Wanderung über die Höhen hinunter nach Neuendorf und weiter an der „Küstenstraße“ bis Lauterbach. Per Schienenersatzverkehr geht es wieder nach Putbus, dann mit dem Rasenden Roland zurück nach Binz.

Der Montag beginnt gleich mit einer Seefahrt. Man könnte zwar genausogut mit dem Bus nach Sassnitz fahren, aber auf dem Schiff ist es halt doch schöner. Auf der linken Seite sehen wir den 5 km langen Nazi-Ferien-Moloch Prora, später dann den neuen Fährhafen Mukran. Rechts glitzert das offene Meer in der Sonne, irgendwo weit hinter dem Horizont käme das Baltikum.
     Bevor wir unsere Klippenwanderung starten, besichtigen wir noch kurz die Altstadt von Sassnitz. Gleich hinter dem Hafen beginnen die legendären Kreidefelsen. Immer phantastischere Ausblicke auf das blaue Meer, die grellweißen Felsen und den grünen Wald lassen uns bewundernd etliche Male innehalten. Manchmal hört man von unten das Rauschen des Meeres, gelegentlich auch mal etwas Kuttergetucker. Nach acht Kilometern Auf und Ab zwischen Höhe 0 und den über 100 Metern hohen Klippen erreichen wir ziemlich erschöpft die Viktoria-Sicht gleich neben dem berühmten Königstuhl.


Der Königstuhl auf Rügen
  

     Nach einer ausgiebigen Stärkung besteigen wir den im 30-Minuten-Takt verkehrenden Bus, der uns aus den Tiefen des Nationalparks Jasmund wieder in die Zivilisation zurückbringt.

Trotz herrlichem Wander-Wetter ist es der kälteste Sommer seit langem. Da wir relativ früh wieder im Hotel ankommen, wird auf unseren Wunsch die Sauna angeworfen, offensichtlich das erste Mal, dass die im August gebraucht wird.

Weil uns eine Insel nicht reicht, geht es am nächsten Tag nach Hiddensee. Dabei können wir mal richtig das Busnetz testen. Die durchgehenden Busse von Binz zur Hiddenseer Fähre in Schaprode gibt es leider nicht mehr, zweimal muss man umsteigen. Gegenüber dem letzten Jahr hat sich die Situation dennoch erheblich verbessert. Auf den Stammlinien gibt es einen 30-Minuten-Takt. Das ist eine gewaltige Leistung für die nur dünn besiedelte Insel. Die meisten Orte sind sehr klein und liegen einige Kilomter auseinander.
     Auf den weniger frequentierten Strecken gibt es einen Stundentakt. Nur in wenigen besonders abgelegenen Orten und dort, wo garantiert keine Touristenströme hin kommen, herrscht noch der übliche „bedarfsorientierte“ Chaos-Fahrplan. An einigen Knotenpunkten mit Sammelanschlüssen wird grundsätzlich aufeinander gewartet, obwohl die Busse fast ständig irgendwo im Stau stehen. Da die Anschlüsse knapp sind, haben alle Busse immer massive Verspätung. Wegen der dichten Taktfolge hält sich der Frust in Grenzen, man ist ja schließlich im Urlaub und nicht auf der Flucht.
     Die Busse sind immer ziemlich voll, keineswegs nur von Touristen. Da sieht man halt: wenn man ein gescheites Angebot macht, wird es auch angenommen!
     Den ersten Busfahrer überfordern wir gleich, er hat nicht genug Fahrkarten. Offensichtlich wird das „Rügen-Ticket“ nicht so oft gebraucht. Es lohnt sich auch nur, wenn man sehr weit fährt oder den ganzen Tag herumkurvt. Sonst ist man mit Einzelfahrkarten doch besser dran. Aber Hiddensee ist weit genug und die Fähre würde allein schon fast soviel kosten.
     Über Funk versucht unser Busfahrer die Fahrkarten zu organisieren. Erst im dritten Bus, den wir am ZOB in Bergen besteigen, hatte der Fahrer die Gelegenheit einen Block aufzutreiben.
     Vor Schaprode wurde ein riesiger Parkplatz angelegt. Die Insel Hiddensee ist nämlich trotz ihrer Ausdehnung von ca. 18 km autofrei. Nur der Bus darf bis zum Hafen vorfahren und dort wartet auch schon die Fähre.
     Eine dreiviertel Stunde dauert die Überfahrt. Das Schiff kann nicht direkt fahren, weil das Wasser zu flach ist. Wie wir auf einer Seekarte entdecken ist die riesige Wasserfläche durchschnittlich 2,5 m tief, an einer Stelle sind es gerademal 4 m. Falls das Schiff untergehen sollte, gibt's nicht mal nasse Füße!
     In Vitte legt die gleichnamige Fähre an. Wir machen uns bald auf den Weg nach Kloster.
     In einer etwas alternativ wirkenden Kneipe gibt es Mittagessen. Diesmal sind wir alle Kulturbanausen, wir lassen das Gerhart-Hauptmann-Museum links liegen.
     Stattdessen machen wir uns auf den Weg zum Bakenberg am nördlichen Ende Hiddensees, mit 65 m Höhe die einzige Erhebung weit und breit. Obendrauf hat man noch einen Leuchtturm in den Sand gesetzt. Die Westseite des Bergs wurde üppig mit Wildrosen bepflanzt, damit der erstbeste Sturm nicht die ganze Insel wegpustet. In den etwas geschützteren Lagen wachsen Krüppelkiefern.
     Unsere mittelmeer-erfahrenen Teilnehmer bemerken den mediterranen Eindruck, den die Gegend macht, nur die Temperatur stimmt noch nicht ganz.
     Auf einer Bank in der Nähe des Leuchtturms ruhen wir uns aus, noch nicht wissend, dass genau diese Bank nur wenige Stunden später in der Tagesschau kommt...


Blick vom Leuchtturm über ganz Hiddensee
  

     Man kann den Leutturm besteigen. Von oben hat man einen herrlichen Ausblick über die ganze Landschaft: im Norden und Westen das endlose Meer, im Süden die langgestreckte Insel Hiddensee, im Osten die flache Boddenlandschaft West-Rügens. Die Burg Granitz mit ihrer völlig anders gestalteten Umgebung ist fast 50 km weit weg und nicht mehr zu sehen.
     Beschwingt kehren wir nach Kloster zurück. Von dort geht das Schiff nach Schaprode, die endlose Busfahrt nach Binz kann beginnen. Plötzlich reiben wir uns die Augen. Haben wir uns so weit verfahren? Eine Elefantenherde steht mitten in der Wiese und rupft genüsslich das hohe Gras aus. Das Rätsel löst sich gleich: in dem kleinen Ort Zirkow ist ein Zirkus.
     Etwas erschöpft kommen wir im Hotel an und machen zufällig die Glotze an. Huch! Da waren wir doch gerade! Dick eingemummt mit Pullovern und Jacken sitzt der ARD-Wetterprophet auf der Bank am Hiddenseer Leuchtturm, und erzählt der unter einer Hitzewelle von knapp 40 Grad dahinschmorenden Rest-Bevölkerung Deutschlands, dass es nicht überall so heiß ist. Mit mickrigen 18 Grad in Luft und Wasser, die sich Tag und Nacht konstant halten, müssen wir hier auskommen. Im Jahr vorher hatten wir 25 Grad im Wasser und um die 30 in der Luft. Die Strandkorbverleiher werden diesen Sommer noch lange verfluchen.
     Nach dem Abendessen klärt sich auch das Geheimnis der streunenden Katzen. Die alten Strandvillen am Ende des Orts werden alle modernisiert und zu Pensionen ausgebaut. Bisher wohnten in den Häusern meist alte Leute, die hier zwei Diktaturen unbeschadet überstanden haben. Jetzt gilt eine neue Diktatur, nämlich die des ungebremsten Kapitalismus: die Menschen werden aus ihren Häusern vertrieben und müssen entweder in die Plattenbaukolonie nach Bergen ziehen oder werden gar von der Insel irgendwo aufs Festland zwangs-abgesiedelt. Oft können die alten Leute ihre Katzen nicht mitnehmen und setzen sie dann einfach aus. Das ist dann wohl der Anfang vom Ende. Au weia! Erschüttert beginnen wir die Prachtbauten an der Strandpromenade in neuem Licht zu sehen...

Diversen Recherchen nach scheint die Vorgeschichte unseres Hotels unkritisch zu sein. Also geht's am Mittwoch flockig-fröhlich weiter, heute ist das Kap Arkona dran. Wir haben uns einen besonderen Weg dorthin ausgedacht.
     Erst müssen wir wieder die Bus-Odyssee bis kurz vor Schaprode machen. In Trent steigen wir aus. Vier Kilometer Fußmarsch entlang einer Allee stehen uns bevor. Dreimal täglich würde auch ein Bus bis zur Südseite der Wittower Fähre fahren, der Fahrplan ist jedoch so intelligent gemacht, dass er in keiner Richtung mit den ebenfalls dreimal täglich fahrenden Bussen auf der Nordseite zusammenpasst. Und dort würde der Fußweg zum nächsten Ort 10 km betragen.
     Viel Verkehr ist nicht, alle 10 oder 15 Minuten kommt ein kleiner Pulk Autos entgegen. Man merkt den Takt der Fähre. Sonst ist da hinten nichts los.
     Vor der Fähre ist ein langer Stau. Wir überholen fröhlich alle, die vorher noch an uns vorbeigerast sind. Die vorderen Autos der Schlange haben wir noch nicht gesehen, die müssen schon länger in der Schlange stehen, als wir für den ganzen Fußmarsch gebraucht haben.
     Mit der nächsten Fähre setzen wir über die engste Stelle des Großen Jasmunder Bodden, einem Meeresarm, der weit ins Innere Rügens hineinreicht.
     Während der kurzen Überfahrt spötteln wir über die Autofahrer, bis uns ein Hamburger Ehepaar mit aus dem Auto gereichten Gummibären zum Schweigen bringt.
     Auf der Nordseite der Fähre brauchen wir nicht allzulange auf den Bus warten. So sind wir trotz des dreiviertelstündigen Fußmarschs deutlich schneller als die Autofahrer. Nur – wer tut sich das sonst an? Der Busfahrer schaut als wären wir frisch vom Himmel gefallen, es ist wohl wochenlang her, dass hier das letzte Mal einer mitgefahren ist. Wer soll auch mitfahren? Von der Fähre kann normalerweise keiner kommen, da auf der anderen Seite der letzte Bus vor drei Stunden angekommen ist. Die zwei Häuser auf beiden Seiten reißen es auch nicht heraus und sonst gibt es weit und breit keinen Ort. Die ganze Gegend besteht aus platten Feldern, neben der einzigen Höhenmarkierung auf der Landkarte steht „1.0“.


Die alte Kirche in Altenkirchen
  

     Nach längerer Fahrt erreichen wir den einzigen größeren Ort der Umgebung: Altenkirchen. Eine 800 Jahre alte Kirche gibt dem Ort seinen Namen.
     Eine Viertelstunde haben wir hier Aufenthalt, das reicht gerade um das Bauwerk zu besichtigen. Dann geht es mit dem nächsten Bus weiter nach Putgarten.
     Die zwei Kilometer bis zum Kap Arkona, dem nördlichsten Punkt der Insel, laufen wir auf der Straße, nur die Touristen-Gummibahn überholt uns gelegentlich. Die zwei Leuchttürme winken schon von weitem, einer wird erklommen.


Da schaust Du kariert: Aussicht vom Leuchtturm am Kap Arkona
  

     Zu unserem Entsetzen müssen wir feststellen, dass man bei sämtlichen Lokalen hier nur draußen sitzen kann, angesichts des eisigen Windes eine ziemlich ungemütliche Sache. Man kann zwar gut daran erkennen, dass das hier nicht das normale Wetter ist, diese Erkenntnis nützt uns jetzt aber herzlich wenig. Ein Kiosk liegt etwas geschützt in einer Geländekuhle und einer der Tische steht zwischen Büschen. Da könnte es angenehmer sein, schließlich scheint die Sonne ja ungehindert vom Himmel. Vergleiche mit dem südfranzösischen Mistral kommen auf, da muss man im August auch mit dem Pullover herumlaufen. Aber dazwischen liegt Deutschland mit 40 Grad Hitze. Könnten die uns nicht was davon abgeben? Das wäre für alle besser!
     Die Stelle ist wirklich gut. Staunend schauen die Spaziergänger zu uns herunter, wie wir uns in der Sonne räkeln. Viel Platz haben wir freilich nicht, nur zwei Meter weiter pfeift der eisige Wind.
     Zum Strand führt eine steile Treppe hinab. Nur grobe Steine und bizarre Militär-Ruinen kann man hier sehen. Jährlich frisst das Meer ein paar Zentimeter von der Insel weg. Die Steine bleiben liegen, der Sand wird von der Strömung zu den Stränden in den Buchten Rügens und der Nordseite Usedoms getragen.
     Die 1000 Jahre alte riesige Jaromarsburg der Slawen ist schon zu gut zwei Dritteln in den Fluten verschwunden. Ein paar frisch ausgegrabene Fundamente gibt es noch und einen Erdwall, über den der Wanderweg zum alten Fischerdorf Vitt läuft.
     Dieser Ort befindet sich in einer Lücke in den Klippen und taucht ganz unerwartet auf. Seine Ursprünglichkeit hat das winzige Dorf leider verloren, obwohl sich nicht viele Touristen hierher verirren, aber die Eis-, Bier- und Zigaretten-Reklame ist für dieses kleinräumige Ensemble einfach zu dominant.
     Interessanter ist da schon die über dem Ort liegende achteckige turmlose Kirche.
     Bald sind wir wieder in Putgarten und beginnen die zweistündige Busfahrt nach Binz. Auf der Schaabe, einem schmalen Landrücken, der den Norden Rügens mit der Hauptinsel verbindet, kommen wir in einen gigantischen Stau. Außer einem endlosen Kiefernwald mit heute garantiert unbenutzten Badestränden ist hier zwar nichts, wer aber nicht über die Wittower Fähre will, muss hier vorbei. Anders geht es nicht, der Rest ist Wasser.
     Busfahrer und Fahrgäste nehmen es gelassen, schließlich prangt über dem Fahrer ein unübersehbarer Aufkleber mit der Weisheit: „Kein Schwanz ist härter als das Leben“.
     Als der Verkehr wieder flüssiger rollt, haben wir passend zum 30-Minuten-Takt der Anschlusslinie eine halbe Stunde Verspätung. Von Westen naht eine monumentale schwarz-gelbe Gewitterwand.
     Beim Umsteigen irgendwo am Stadtrand von Sassnitz tobt rundherum schon das Gewitter. Wir gelangen trocken zum gläsernen Wartehäuschen auf der anderen Straßenseite, dann geht's auch hier los. Bis wir in Binz sind ist der Spuk – erstmal – vorbei.
     Es ist dunkel als wir nochmal auf die Binzer Seebrücke hinauslaufen. Rundherum zucken Blitze, die sich gespenstisch im Wasser spiegeln. Zum ersten Mal geht ein warmer Wind. Als das Grollen näher kommt ziehen wir uns vorsichtshalber ins Hotel zurück und kommen gerade noch trocken an. Einige kaufen sich „schnell“ noch ein Eis und werden auf den letzten zehn Metern deutlich nasser, als wenn die Hiddenseer Fähre gesunken wäre.

Am Donnerstag steht der Ausflug nach Usedom auf dem Programm. Das Wetter hat sich über Nacht ausgetobt, es ist sogar etwas wärmer geworden. Während der dreistündigen Schifffahrt von Binz nach Peenemünde auf Usedom kann man sogar draußen sitzen. Das Schiff legt noch in Sellin und Göhren an, dann geht es quer über den Greifswalder Bodden in den Peenestrom, der die Insel Usedom vom Festland trennt.
     Peenemünde ist nicht gerade idyllisch. Beton und rostiges Eisen aus der Nazi-Zeit sowie ein riesiges Heizkraftwerk bestimmen den ersten und auch alle weiteren Eindrücke. Aber das Ganze ist historisch und da gibt es auch ein dazu passendes Museum.
     Hier wurden die ersten richtigen Raketen entwickelt, freilich nur zum Zweck, explosives Zeug, letztlich sogar Atombomben, ungeliebten Nachbarländern überzubraten. Glücklicherweise kam es dazu nicht mehr. Russen und Amerikaner haben sich dann die besten Wissenschaftler unter den Nagel gerissen. Einem richtigen Forscher ist es ohnehin egal für wen oder was er arbeitet, Hauptsache er kann gescheit tüfteln und experimentieren. Der Rest ist bekannt: die Russen waren als erste im Weltall, die Amis taten den ersten „großen Schritt für die Menschheit“ auf dem Mond.
     Mit vielen kleinen Schritten für unsere Gruppe suchen wir in dem kasernenartigen Häusergewirr den Bahnhof und können gerade noch auf den schon abgepfiffenen Zug aufspringen.
     Die Usedomer Bäderbahn (UBB) setzt lauter Reichsbahn-Schienenbusse ein, die im Volksmund oft „Ferkeltaxen“ genannt werden. In der DDR wurden sie wegen ihrer rundlichen Form auch „Keksdosen“ genannt, in Anspielung auf die ursprüngliche Farbe auch „Blutblasen“. Inzwischen bekamen aber alle den grün-weißen Nahverkehrsanstrich und heißen dem entsprechend „Eiterbeulen“.
     Ein Teil der Fahrzeuge wurde bei der UBB modernisiert und mit einem Erdgasantrieb versehen. Es macht immer wieder Spaß mit diesen Dingern herumzufahren, die zweiachsigen Gefährte schlingern selbst auf neu verlegten Gleisen derart, dass man immer den Eindruck hat, viel zu schnell zu fahren.
     Inzwischen wurden auch alle Bahnhöfe nett hergerichtet.
     In Heringsdorf steigen wir aus und machen uns auf den Weg zum Strand. Richtig schön ist es hier nicht, zuviel Beton und Glas. Nach dem Mittagessen wandern wir am Strand entlang nach Ahlbeck. Das markante Seebrücken-Café ist das Wahrzeichen des Ortes.


Die berühmte Seebrücke in Ahlbeck
  

     Weiter geht es Richtung polnischer Grenze. Ein völlig menschenleerer Strand mit feinstem Eieruhr-Sand präsentiert sich uns. Da es inzwischen auch wärmer geworden ist, haben wir endlich die Gelegenheit uns mal nackt im Sand zu wälzen. Der eine oder andere geht auch mal ins Wasser – und kommt ganz schnell wieder raus. Das ist freilich in der kurzen Zeit nicht wärmer geworden.
     Eine Stunde bleiben wir, dann geht es noch einen Kilometer am Strand entlang und ein paar hundert Meter quer durch den Wald. Schon sind wir an der Grenze. So viel wie im Vorjahr ist hier nicht mehr los. Vom neuen Bahnhof „Ahlbeck Grenze“ reisen wir mit der Ferkeltaxe die 40 Kilometer zum Bahnhof Wolgaster Fähre.
     Eine Fähre gibt es hier schon lange nicht mehr. Eine nagelneue riesige blaue Klappbrücke verbindet die Insel mit dem Festland. Es ist vorgesehen, die UBB hier mit dem Bahnhof Wolgast Hafen auf dem Festland zu verbinden. Die Brücke ist dafür ausgelegt. Doch wie es aussieht, kommt eher eine weitere Autospur dazu und dann ist für die Bahn plötzlich kein Platz mehr.
     Wir gehen zu Fuß hinüber und erreichen bald den abfahrbereiten Bummelzug nach Züssow. Eine Elektrolok und drei Original-Reichsbahn-Doppelstockwagen zuckeln mit maximal 30 km/h über die maroden Gleise. In Züssow gibt es Anschluss nach Stralsund. Hier ist reichlich Zeit für eine Stärkung in der Bahnhofskneipe. Mit dem nächsten Doppelstock-Zug geht es nach Lietzow, dort haben wir Anschluss auf den letzten Zug nach Binz. Von Ahlbeck Grenze bis Binz waren es 159 Kilometer, wir sind 4 mal umgestiegen und waren 4 Stunden und 35 Minuten unterwegs.

In Prora sind uns im Vorjahr hunderte von alten Straßenbahnzügen Typ Gotha mit eingeworfenen Fensterscheiben aufgefallen. Die sind jetzt alle weg, dafür gibt es ein Verkehrsmuseum.


Verkehrsmuseum in Prora
 

Hat bessere Zeiten hinter sich: Werkslok im Verkehrsmuseum Prora
  

     Durch einen Straßenbahnwagen betritt man das Museum. Hinten steigt man ein, entrichtet den nicht gerade geringen Obulus, wenn man dann vorne wieder aussteigt ist man auf dem Museumsgelände. Der Zaun geht praktisch durch die Trambahn hindurch.
     Auf dem Freigelände zwischen den ehemaligen Panzer-Abstellhallen befindet sich eine skurrile Sammlung von Straßenbahnen, Omnibussen, ziemlich abgewrackten Lokomotiven und diversen Bau- und Wartungsfahrzeugen. Letztere sind die interessantesten, weil die üblicherweise in einem solchen Museum nicht zu finden sind.
     In einer Halle stehen einige Dampfloks. Da es da drin ohnehin viel zu dunkel ist, sind die schwarzen Ungetüme kaum zu erkennen und auch mit Blitz nicht zu fotografieren („Negerkampf im Tunnel“).
     In der anderen Halle sind ein paar Autos und eine Feuerwehr-Fahrzeug-Sammlung untergebracht, die in einem erheblich besseren Zustand wie der Rest der Ausstellung ist.
     Den traurigen Abschluss bildet eine Dampfspeicherlok aus irgendeinem DDR-Chemie-Kombinat, die am Ende des Areals vor sich hinrostet und schon bis fast zu den Puffern im Sand eingesunken ist.
     Da muss noch viel Geld und Arbeit reingesteckt werden, bis das Ganze wenigstens in einem gewissen Glanz erstrahlt.

Am Freitagnachmittag fahren alle nach Stralsund. Im Interregio gibt es bayerischen Leberkäs zum Mittagessen, der erstaunlich gut ist.
     Wie im Vorjahr besuchen wir die Marienkirche und lassen uns per Gummibahn durch die Stadt kurven. Schließlich erkunden wir die Stadt wieder zu Fuß, kommen am Rathaus und der Nikolaikirche vorbei, schauen die merkwürdigen Speicherhäuser am Hafen an und kehren irgendwo ein. Alle wundern sich über die allgegenwärtige Ruinen-Landschaft, die eher noch schlimmer geworden zu sein scheint.


Die Rügendammbrücke geht auf: links die Straße, rechts die Bahn
  

     Plötzlich reift die Idee, zur Rügendammbrücke hinauszulaufen. Gerade als wir ankommen, hebt sich die Klappbrücke. Bahn und Straße sind jetzt unterbrochen, für die nächste halbe Stunde ist Rügen wieder eine echte Insel. Ein Rettungswagen mit Blaulicht und Sirene kommt – aber das hilft nichts, hier kann jetzt nicht gerettet werden! Der Brückenwärter hat Lautsprecher in die Fenster seines Häuschens gestellt und beschallt die ganze Gegend mit Marschmusik. Lauter klitzekleine Segelschiffchen fahren vorbei, aber deren Masten hätten wohl unter der geschlossenen Brücke gerade nicht durchgepasst. Erst ganz am Schluss kommt ein größeres Schiff mit eigenartigen Aufbauten. Die Brücke schließt sich wieder, die Autos rollen an, der Notarzt schaltet Blaulicht und Sirene wieder ein und da kommt auch schon der erste Zug. Der komplizierten Oberleitungs-Mechanik an der Brücke traut der Lokführer wohl nicht ganz, er rollt abgebügelt über die Brücke. Dabei war doch die DDR so stolz auf dieses Meisterwerk der Parallelogramm-Verschiebung.
     Die Insel Dänholm, die gleich hinter der Brücke im Strelasund liegt, erweist sich in kulinarischer Hinsicht als Flop. Glücklicherweise kommt gerade ein Bus und fährt uns wieder in die Stadt, wo wir dann doch noch was Richtiges zwischen die Zähne kriegen.
     Mit der gleichen letzten Zugverbindung wie am Tag zuvor fahren wir wieder nach Binz.

Der Tag der Abreise ist gekommen. Mit viel Gepäck und etwas traurig watscheln wir früher als sonst zum Bahnhof. Bei der letzten Fahrt über die Rügendamm-Brücke fließen sogar einige Tränen – weil's so schön war . . .