Die Bretter-Story vom S-Bahnhof

Leipzig. Das „Uno-Jahr der Menschen mit Behinderung“ begann für Rosemarie Solbrig mit dem Kampf ums Brett. Ein solches legte für Rollstuhlfahrer wie sie bisher der Zugbegleiter der S-Bahn aus, wann immer die Grünauerin an einer Haltestelle stand und mitreisen wollte. Jetzt gibt's keine Zugbegleiter mehr – und somit legt auch niemand mehr das Brett aus, das stets in einem der Waggons deponiert ist. Um mal fix in die City zu kommen, soll Frau Solbrig fortan ihren „Reisewunsch“ in Nürnberg anmelden.
     Fast täglich nutzt Rosemarie Solbrig den S-Bahn-Regionalverkehr zwischen Karlsruher Straße und Hauptbahnhof, um in die Stadt zu kommen. Sie nimmt gern die S-Bahn. Die ist in ihrer Wohnortnähe. Damit kommt sie, zumindest in ihrer Gegend, als Behinderte besser weg als mit der Bimmel. Wer wie sie im Rollstuhl sitzt, meldete sich bisher schlicht beim Zugbegleiter. Der legte besagtes Brett zum Rein- beziehungsweise am Zielort zum wieder Rausrollen an. „Null Problem!“, sagt die 51-Jährige. „Bis vor ein paar Tagen.“ Da rollte die S-Bahn an der Karlsruher Straße ohne Zugbegleiter vor. „Ich stand draußen, konnte nur anderen Reisenden zurufen, wo die Einstiegshilfe drinnen in der Bahn liegt und sie bitten, die anzulegen“, erzählt Rosemarie Solbrig. Das Hin- und Her darüber habe der Zugfahrer mitgekriegt. Jawohl, die Zugbegleiter seien eingespart worden. Sie solle ihre Fahrten jetzt anmelden. Ob sie das denn noch nicht wisse... Weil die Grünauerin das noch nicht wusste, gab er ihr einen Handzettel – mit der Rufnummer des Mobilitätsservice der Bahn 0180/5 51 25 12 in Nürnberg. „Ich will doch nur in die Stadt und nicht nach Paris“, dachte da Frau Solbrig so für sich. Aber naja...
     Bahn-Sprecher Volker Knauer sagte auf LVZ-Nachfrage, die S-Bahn in Leipzig sei eine Nahverkehrsleistung, die der regionale Zweckverband Nahverkehr bei der Bahn bestellt habe und für die der Verband bezahle. „Aber eben nur für bestimmte Leistungen und jetzt nicht mehr für Kundenbetreuer an Bord“, so Knauer. Natürlich bringe das für Rollifahrer Probleme. „Generell versuchen wir ja auch überall die Haltepunkte möglichst barrierefrei zu gestalten. Zum Beispiel in Leipzig am Flughafen. Das dauert freilich. Klar, das nützt Rollifahrern jetzt wenig! Da haben wir aber unsere Mobilitätszentrale, montags bis freitags von 8 bis 20 Uhr. Dort kann man für 12 Cent pro Minute seinen Fahrtwunsch äußern.“ Auch im Regionalverkehr? „Jaja. Wobei ich mir nicht sicher bin, ob auf allen 7000 Stationen in Deutschland Hilfe möglich ist. Aber die helfen! Auf alle Fälle. Soweit ich gehört habe, kommt das auch gut an!“
     Die LVZ mimte den Rollstuhlfahrer, rief die Wunder-Nummer an, bestellte eine Einstiegshilfe für die Fahrt Karlsruher Straße/Leipzig-Hauptbahnhof für den nächsten Tag 13.38 Uhr. „Ab Karlsruher Straße? Oh. Das wird nichts. Da haben wir kein Servicepersonal. Ab Hauptbahnhof irgendwohin – wäre keine Hürde. Aber so? Na vielleicht können Sie sich ja privat was organisieren...“
     Auch Rosemarie Solbrig rief da an. Der Herr, den sie an der Strippe hatte, meinte entgeistert, was er in Nürnberg mit dem Regionalverkehr in Leipzig zu schaffen habe. Die Karlsruher Straße hatte er nicht mal im PC. Kümmerte sich aber, riet, es unter der (0341) 4 92 20 66 zu probieren. „Unverschämtheit der Bahn, die Kompetenzen hin und her zu schieben“, erboste sich diesmal am anderen Ende ein Herr der Leipziger Verkehrsbetriebe. Kümmerte sich aber. Gab Rollifahrerin Solbrig die 1 18 61, worauf sie bei der Deutschen Bahn-Zentrale landete, die – „Sorry, nicht bei uns“ – die Grünauerin mit der 9 68 10 55 fürs Service-Center auf Leipzigs Hauptbahnhof entließ. Dort verstand man auch nur Bahnhof und hatte das Brett eher vorm Kopf als jemals davon gehört, Fahrt- und damit verbundene Rampenwünsche von Behinderten anzunehmen. Die Dame fragte Frau Solbrig stattdessen vorsichtig, ob sie schon jemals S-Bahn gefahren sei. Ja, sagte Frau Solbrig. Erst gestern wieder. „Na, und wer hat Ihnen da geholfen?“ – „Da hatte ich Glück, da war so ein Mann von Ihrer Bahn-Service- und Sicherheitsgesellschaft an Bord.“ – „Aha! Da haben wir's! Die Sicherheit ist zuständig! Ich geb' Ihnen die Nummer...“
     Um es kurz zu machen – die ist's auch nicht. Versprach aber, zu helfen, notierte Frau Solbrigs Bitte, diesen Montag um so und so viel Uhr am Haltepunkt Karlsruher Straße das Brett gelegt zu kriegen. Darauf wartete Frau Solbrig dann vergeblich. Mitbürger übernahmen's letztlich. Retour abends in der S-Bahn gab's nicht mal mehr die. Als sich die Bahn der Karlsruher Straße näherte, war die 51-Jährige mutterseelenallein im Zug. In ihrer Not und weil sie aussteigen musste, klemmte sie sich mit dem Rolli zwischen die Tür, auf dass beim Lokführer ein Lichtlein blinke. Es blinkte. Er kam – und schalt Frau Solbrig, weshalb sie ihre Fahrt nicht ordnungsgemäß angemeldet habe.

Angelika Raulien
Leipziger Volkszeitung – 8. Januar 2003



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